Als ich von meiner Exkursion zum Salto Angel, wo ich mit dem Fuß umgeknickt bin, nach Ciudad Bolívar zurückkehre, ist dieser bereits so stark angeschwollen, dass Sehnen und Adern nicht mehr zu erkennen sind. Ich passe in keinen Schuh und muss notgedrungen einen Tag Pause einlegen sowie Ibuprofen und Mobilat einsetzen.
Das hilft, und am nächsten Tag schwinge ich mich in den Sattel, um von Ciudad Bolívar Richtung Cuidad Guayana zu fahren.
Es ist das erste Mal, dass ich in Venezuela mit dem Rad unterwegs bin, und es ist anders als bisher: Haben mir während meiner gesamten bisherigen Tour die Menschen ins Gesicht geschaut und mir freundlich, aufmunternd oder anerkennend zugewinkt, so wandern die Blicke hier taxierend zu meinem Fahrrad.
Bereits in der Stadt fahre ich auf eine vierspurige Straße, die zur Autopista Simón Bolívar führt. Nach zwölf Kilometern erreiche ich die Stadtgrenze, als mich plötzlich ein mit zwei Männern besetztes Motorrad von der Straße abdrängt. Ich stürze, fange mich mit dem rechten Unterarm ab und spüre im nächsten Moment eine Waffe an meiner Schläfe. Dann reißt der Kerl an meiner Lenkertasche herum, die eigentlich nicht ohne Lösen eines Hebels abnehmbar ist, und hält sie in der Hand. Mein Smartphone, das in einer wasserfesten Hülle ziemlich fest an der Lenkstange montiert ist und wegen Aufladens am Kabel hängt, reißt er ab, es fällt ihm erst runter und mittlerweile rappele ich mich hoch, sodass er zurück zum Motorrad setzt. Ich muss erst um das liegende Fahrrad herum und kriege ihn deshalb nicht mehr zu fassen!
Entsetzt und wütend versuche ich, Autos anzuhalten, aber die fahren schön im Bogen um mich herum, obwohl ganz offensichtlich ist, in welcher Not ich mich befinde, und schließlich ist das Motorrad außer Sicht.
Etwa 30 Meter vor mir, nur getrennt durch einen kleinen Weg, steht eine Gruppe vierzehn- bis sechszehnjähriger Schüler, die vor ihrer gegenüber liegenden Schule offenbar auf den Bus wartet. Ich ersuche sie um Hilfe, möchte, dass sie die Polizei rufen, denn sie haben alles beobachtet, aber manche der Jungen lachen und scheinen diesen bewaffneten Raubüberfall ausgesprochen amüsant zu finden.
Und sofort bin ich wieder in meiner alten Rolle als Lehrer: In dieser absoluten Stresssituation brülle ich sie einmal kurz an, und auf der Stelle herrscht Ruhe. Ein Mädchen spricht Englisch, und einer der Jungen ruft schließlich die Polizei.
Als Polizisten eintreffen, erklärt das Mädchen, was vorgefallen ist und übersetzt für mich. Die Polizeistreife wird langsam vorweg zum Revier fahren, sodass ich folgen kann. Dies wird auch tatsächlich für einen Moment so umgesetzt, sogar mit Warnblinklicht. Als mich aber ein anderes Auto überholt und gleich darauf abbiegt, ist von der Polizeistreife weit und breit nichts mehr zu sehen … – ich fasse es nicht, die haben mich abgehängt!
Ich fahre weiter Richtung Autopista, denn ich sehe eine Polizeikontrollstation.
Dort angekommen bitte ich Polizisten um Hilfe, und erneut staune ich über deren Reaktion: Man fragt mich nach US Dollar, und als ich ihnen gestisch und mimisch klarmache, dass man auch diese gestohlen hat, bedeuten sie mir, ich möge warten und lassen mich dann einfach stehen. Es tut sich nichts, und so setze ich mich nach einer Dreiviertelstunde aufs Rad und fahre weiter, denn ich will auf gar keinen Fall im Dunkeln ankommen!
In der Pousada, die ich am Morgen verlassen habe, sieht man sofort, was los ist. Man hilft mir, meine Sachen ins Zimmer zu bringen, und ich lasse erst einmal meine Kreditkarte sperren. Ein älterer im Rollstuhl sitzender Mann, der mir die Tage zuvor schon aufgefallen ist, spricht Englisch und wird für mich den Hergang des Überfalls ins Spanische übersetzt aufschreiben.
So kann ich am nächsten Tag eine Anzeige bei der venezolanischen Polizei in Ciudad Bolívar machen; eine Polizei, mit der ich erstmals auf meiner gesamten Reise keine guten Erfahrungen gemacht habe.
Der Bruder der Frau, die die Pousada leitet, spricht kein Wort Englisch, aber er kümmert sich um mich und begleitet mich zur Polizei. Dort erklärt er mir, dass ich 500 Bolivar Schmiergeld über den Tresen reichen soll, und erst danach beginnt einer der Polizisten sehr langsam, ein Formular auszufüllen, das über den Diebstahl meiner Papiere und Kreditkarten informiert.
Eine Korruption in diesem Umfang ist mir bisher noch nicht untergekommen!
Die vielen Bündel Bolivar, die ich bei dem Geldwechsler auf brasilianischer Seite gegen meine restlichen brasilianischen Real eingetauscht habe, füllen beinahe eine der vorderen Packtaschen.
Da ich, im Vergleich zum Tausch in einer Bank, die mehr als hundertfache Menge venezolanischer Bolivar bekommen habe, kann ich zumindest meine Unkosten spielend begleichen.
Ich werde dieses Land nicht mehr mit dem Rad bereisen. Leider muss ich zwei weitere Tage warten, bis ein Bus in die 600 Kilometer entfernte Hauptstadt Caracas fährt.
In der Zwischenzeit telefoniere ich mehrmals mit der deutschen Botschaft in Caracas, die ich als sehr unterstützend erlebe. Einen Ersatzausweis zu erhalten ist kein Problem, aber es bedarf der Rücksprache mit der heimatlichen Ausweisstelle.
Das Busticket nach Caracas habe ich bereits in der Tasche, als ich abends mit einem Taxi, das auch mein Rad transportiert, am Busbahnhof ankomme. Und dann treffe ich auf diesen Halunken von Busfahrer, der Schmiergeld fordert, um das Fahrrad überhaupt mitzunehmen. Aus Sicherheitsgründen soll ich die geforderten 5000 Bolivar in einem fensterlosen Büroraum an einen Kollegen überreichen, was auch geschieht. Als ich dann mit Fahrrad und Packtaschen am Bus stehe, will der Busfahrer mehr Geld, und ich zahle – inzwischen stinksauer – nochmal 5000 Bolivar. Das ist vielleicht eine korrupte Mischpoke hier! Wenngleich mir durch den extrem guten Umtauschsatz kein Schaden entsteht – es handelt sich nur um ein paar Euro – stößt mir das ganze Gehabe mehr als auf!
Nach einer nächtlichen Busfahrt komme ich zehn Stunden später in Caracas an.
Seitens der Botschaft hat man mir ein Hotel in der Nähe der deutschen Vertretung in einem Viertel empfohlen, das relativ sicher sein soll.
In das Hotel wird man persönlich eingelassen, und mein Zimmer liegt im vierten Stock, sodass ich mich gut aufgehoben fühle. Jeden Morgen muss ich die 4000 Bolivar für die Übernachtung in bar bezahlen. Das sind für mich keine sechs Euro, aber tägliches Bezahlen mutet schon sehr merkwürdig an!
Mein Zimmer hat eine Klimaanlage, ein Fenster (was nicht unbedingt üblich ist), leider keinen Kühlschrank und ein Bad mit kaltem Wasser. Duschen mit diesem kalten Wasser ist zwischen 6.30 Uhr und 20.00 Uhr meistens möglich, aber nachts wird das Wasser grundsätzlich abgestellt – das gilt auch für die Toilette!
Hier im Botschaftsviertel sieht man tatsächlich keine an Häuser angelehnten Männer, die Passanten beobachten. Restaurants sind verriegelt, sodass ich klingeln und warten muss, dass man mir öffnet, und nach dem Einlass wird die Tür sogleich wieder verschlossen.
Den kurzen Weg zur Botschaft lege ich zu Fuß zurück.
Ist man im Besitz eines Handys, so muss man dieses bei Betreten der Botschaft für die Verweildauer abgeben. Hinter einer Scheibe sitzt eine Venezolanerin, die über Mikrofon in akzentfreiem Deutsch mit mir spricht.
Ich bekomme erst einmal einen Behelfsausweis, denn das Ausstellen meines dann ein Jahr gültigen Ausweises wird noch einige Tage brauchen. Das ist okay, da ich beschlossen habe, nicht mehr über Trinidad und Tobago und vielleicht eine weitere Insel bis nach Kuba zu kommen, sondern direkt nach Havanna zu fliegen. Und mein Flug Caracas – Havanna geht erst in einer Woche.
In der Botschaft nehme ich wahr, dass man durchaus der Meinung ist, das Aussprechen einer Reisewarnung für Venezuela wäre mehr als angemessen! Und für Sonntag und Montag legt man mir dringend nah, das Hotel nicht zu verlassen, denn Wahlen stehen an und man rechnet mit Krawallen und Übergriffen. So ist an dem gesamten Wochenende der Verkauf alkoholischer Getränke verboten, und ich bekomme nicht mal ein Bier!
Caracas gilt als eine sehr gefährliche Stadt mit extrem hoher Kriminalitätsrate. Mit jährlich 140 Morden pro 100.000 Einwohnern weist die venezolanische Hauptstadt die höchste Mordrate der Welt auf.
So ganz viel sehe ich nicht von Santiago de León de Caracas, wie die Metropole offiziell heißt, denn meine Motivation, dieses Land besser kennenzulernen, ist dahin.