Von Manaus fahre ich mit dem Bus nach Boa Vista, Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Roraima. Das Fahrrad steht gut verstaut unten im Bus.
Wir nutzen die BR 174 von Manaus nach Ciudad Guayana in Venezuela, die einzige Straßenverbindung Brasiliens mit seinen nördlichen Nachbarländern. Von Boa Vista bis zur venezolanischen Grenze sind es weitere 220 Kilometer. Aber ich habe Glück, denn eine halbe Stunde später fährt ein Anschlussbus weiter Richtung Norden, und den nehme ich.
Vor Grenzübertritt tausche ich bei einem Geldwechsler meine restlichen brasilianischen Real in venezolanische Bolívar um, und er händigt mir das viele Geld gebündelt und in einer Plastiktüte verpackt aus. Die auf dem Schwarzmarkt gehandelte Währung Venezuelas kollabiert; ich erhalte die mehr als hundertfache Menge, die eine Bank mir geben würde. Das sprengt jedes Portemonnaie, und so stopfe ich das Geld in eine der Packtaschen.
Zwischen dem Orinoco- und dem Amazonasbecken erstreckt sich ein ausgedehntes Hochland von etwa 20.000 Quadratkilometern, die Gran Sabana. Es erreicht im Norden eine durchschnittliche Höhe von 1400 Meter und im Süden 760 Meter. Unsere Tour führt durch die immensen Graslandschaften des Hochlandes entlang der legendären Tafelberge zu wunderbaren Wasserfällen.
Mit einer kleinen Gruppe fahre ich am nächsten Morgen in einem Geländewagen in den Nationalpark Canaima.
Beim Besuch der Quebrada de Jaspe erleben wir ein beeindruckendes Naturschauspiel: der Wasserfall ergießt sich in ein imposantes Flussbett, das aus rot glänzenden vulkanischen Halbedelsteinen – Jaspis – besteht.
Der etwa 160 Millionen Jahre alte Tafelberg Roraima ist 2810 Meter hoch und in seiner weitesten Ausdehnung 15 Kilometer lang. Er liegt am Dreiländereck zwischen Guyana, Venezuela und Brasilien.
Die bis 600 Meter hohen Steilwände, die eine natürliche Barriere bilden, ermöglichen die Entwicklung von Tier- und Pflanzenarten, die sich an keinem anderen Ort der Welt finden lassen: annähernd 80 Prozent der Flora und Fauna sind auf diesem nur 10° Celsius erreichenden Areal endemisch.
Ich verbringe eine weitere Nacht in Santa Elena de Uairén und traue am nächsten Morgen meinen Augen kaum: Da übernachten Leute in derselben Unterkunft, die ich kenne!
Unsere Wege trennen sich sogleich wieder, denn ich werde mit dem Nachtbus nach Ciudad Bolívar fahren. Diesmal ist wieder das Vorderrad auszubauen, und zu allem Übel sitzt neben mir ein Vater mit seinem Schreikind.
Gerädert komme ich an und gönne mir den Tag.
Ciudad Bolívar ist eine 250 Jahre junge Stadt und nach dem Freiheitskämpfer Simón Bolívar benannt. Ihr historisches Zentrum ist sehr gut erhalten, mit kolonialzeitlichen Gebäuden und einer Kathedrale am Plaza Bolívar.
Am folgenden Tag geht es mit einer Cessna südlich in den Canaima National Park.
Dieser Nationalpark ist eine von Flüssen, Seen, Wasserfällen und Tafelbergen bestimmte Landschaft. Hier gibt es eine herrliche Lagune mit ihrer einzigartigen Tepui-Kulisse, in die sich die drei Wasserfälle Golondrina, Hacha und Ucaima ergießen.
Der Salto el Sapo befindet sich in der Nähe des Dorfes Canaima. Kurz vor Canaima gabelt sich das Flussbett des Río Carrao auf, und der Fluss stürzt parallel in mehreren Wasserfällen in den See Laguna de Canaima.
Eine Aushöhlung unter den hinabstürzenden Wassermassen des Salto El Sapo erlaubt es, hinter dem Wasserfall durchzugehen.
Am nächsten Tag machen wir uns auf zum höchsten freifallenden Wasserfall der Welt, den Salto Ángel. Auch er liegt im Nationalpark Canaima.
Mit 979 Metern ist der Salto Ángel der Wasserfall mit der größten Fallhöhe weltweit. Gespeist wird er durch den Río Churún und oftmals auch durch heftige Gewitter-Regengüsse, die auf dem großen Plateau des Auyan-Tafelberges, der eine Fläche vom 700 Quadratkilometern hat, niedergehen.
Auf halbem Weg zerstäubt das Wasser, besonders in der Trockenzeit, zu einer Wolke aus kleinen Wassertröpfchen, die sich am Fuß der Felswand zu einem reißenden Fluss sammeln. Kurz darauf stürzt das Wasser nochmals 200 Meter in die Tiefe.
Trotz des zu betreibenden Aufwands – der Salto Ángel ist nur durch eine mindestens eintägige Bootstour von Canaima aus erreichbar – hat sich dieser Wasserfall zu einem Besuchermagneten entwickelt. Mitten im venezolanischen Urwald gelegen ist man auch heute noch aufs Flugzeug angewiesen. Und obwohl der Fall aufgrund der Trockenzeit weniger imposant ist, hat sich der Ausflug hierher allemal gelohnt!