Nun bin ich in Kirgisistan angelangt. Die Grenzstadt Chaldovar ist ziemlich verdreckt, weil die Leute, die auf die Grenzabfertigung warten, all die Dinge, die sie nicht mehr benötigen, einfach aus dem Fenster werfen. Ich treffe nach langer Zeit wieder auf erste herrenlose Hunde.
Unterwegs sehe ich mehrfach Bewässerungskanäle, die die Straßen flankieren und öfter auch mal „angezapft“ werden.
Nach einer weiteren Tagestour erreiche ich die Hauptstadt Bishkek. Sie ist der politische, wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt Kirgisistans. Einst Karawanenstation an der Seidenstraße erlebte Bishkek im Laufe ihrer Zeit mehrere Umbenennungen. Heute hat sie etwa 870.000 Einwohner.
Bishkek ist eine lebhafte und in vieler Hinsicht moderne Stadt, mit zahlreichen Restaurants und Cafés und einem dichten Straßenverkehr im planmäßig angelegten Schachbrettformat. Man sieht breite Boulevards, marmorverkleidete öffentliche Gebäude und massige Wohnblocks aus sowjetischen Zeiten.
Aufgrund seiner kurzen Geschichte hat Bishkek keine historischen Bauwerke.
Ich wohne in einem Guest house, das der Lonely planet empfohlen hat, und treffe nicht nur auf eine sehr freundliche Gastgeberin mit ihrem 30jährigen Sohn, sondern auch auf Zaya und Mike.
Die beiden fahren die Mongolia Charity-Rallye und sind in London gestartet. Zaya stammt aus der Mongolei, hat zehn Jahre in Amerika gelebt und fährt zurzeit Motorrad-Rallyes für wohltätige Zwecke.
Zu Jahresbeginn war sie mit Motorrad und Beiwagen, vollgestopft mit warmen Klamotten, bei minus 40 Grad auf schneebedeckten Straßen und zugefrorenen Flüssen auf der Sibirien Rallye unterwegs. Sie zeigt mir Fotos auf ihrem Laptop. Auf einem hat sie sich auf das Eis gelegt und ihre kalten Füße an den heißen Zylinder gehalten.
Sie ist wahrhaftig eine Abenteuer liebende Person!
Mike plant, seine Heimreise nach England über Russland zu machen, und Zaya wird erstmal nach Hause in die Mongolei fahren.
Am Abend machen wir drei uns mit dem Sohn der Wirtin zum Essen auf. Wir besuchen ein einheimisches Restaurant, und es gibt Plov, ein zentralasiatisches Nationalgericht. Reis wird gekocht und mit Zwiebeln, Brühe, Fleisch oder Fisch und Gemüse zubereitet – nicht unlecker!
Am folgenden Morgen verabschiede ich mich, und es geht weiter Richtung Gebirgssee Issyk Kul. Ich erreiche am frühen Abend Kemin. Hinter der Ortschaft schiebe ich mein Rad über ein kleines Wehr und schlage das Zelt an einem Fluss auf, an dem ich mich morgens wasche.
Inzwischen fahre ich langärmelig, denn durch die zunehmende Höhe ist es hier ein bisschen kühler.
In Balykchy erreiche ich schließlich das Ufer des größten kirgisischen Sees, in dessen Tälern sich ein Großteil der Bevölkerung Kirgisistans konzentriert.
Nach dem südamerikanischen Titicacasee ist der Issyk Kul der zweitgrößte Gebirgssee der Erde. Er ist 182 km lang, 60 km breit, bis 668 m tief und gut 1600 m über dem Meeresspiegel. Im Norden liegt die Bergkette des Kungej-Alatau, im Süden die des Terskej-Alatau.
Der Issyk Kul gefriert im Winter trotz einer Lufttemperatur von bis zu −20 °C nie. Vermutlich liegt das am Salzgehalt und an der raschen Mischung zwischen Oberflächen- und Tiefenwasser, das mehr als 4 °C hat. Der Issyk Kul ist heute Naturschutz- und Erholungsgebiet.
In Tamchy sind in 1600 m Höhe nur noch 25°C. Ich fahre den ganzen Tag auf der Hochebene. Eine richtige Urlaubsfahrt ist das heute, mit einem traumhaften Panorama: auf der gegenüberliegenden Seite des Sees sehe ich auf der Bergkette weiße Zipfelmützen – schneebedeckte Gipfel ziehen sich am gesamten Issyk Kul entlang.
Abends im Hotel setze ich ein größeres Ritzel auf – es hat einen Zahn mehr – um in der gebirgigen Gegend besser zurecht zu kommen. Der erste Gang hat nun eine noch kleinere Übersetzung; folglich habe ich nicht mehr so viel Kraftaufwand. Aber die Kette ist zu stramm, sodass ich sie neu einstellen muss. Sonst kann ich das Hinterrad nicht einsetzen.
In Cholpon Ata gehe ich im See schwimmen. Im Anschluss probiere ich eine weitere landestypische Speise – Lachman – eine Suppe mit dicken Nudeln und Kartoffeln.
In Grigorievka verlasse ich den Issyk Kul vorübergehend und fahre gen Norden in die Berge, genauer gesagt, in die Kungej-Alatau-Bergkette des Tianshan-Gebirges. Hier gibt es keine Asphaltdecke mehr, und ich sehe überwiegend Allrad-Fahrzeuge – aus gutem Grund.
Viele Jurten liegen an dieser Passstraße, auch solche, die für Reisende angeboten werden. Der Pass befindet sich auf einer Höhe von 2400 Metern. Zum Teil schiebe ich das Rad, trotz des größeren Ritzels; das ist extrem anstrengend!
Aber die Landschaft ist einfach ein Traum! Ich bin unterwegs auf dieser unbefestigten Schotterstraße, die mir prompt den nächsten Platten einbringt. Schlagartig ist die Luft raus; ich muss also umgehend einen anderen Schlauch einziehen.
Viele frei laufende Pferde sowie Kuh- und Schafherden, die von Schäfern betreut werden, begegnen mir, und „Cowboys“ zu Pferd bringen ihre Herden auf den richtigen Weg.
Am Pass begegne ich Falknern, die mir eines der Tiere auf die Hand setzen.
Ich übernachte in einer der Jurten. Bevor ich sie betrete, ziehe ich meine Schuhe aus, denn die Jurte ist mit Teppichen ausgelegt.
Zum Abendessen gegen 19 Uhr gibt es Fisch, Salat, Brot, Marmelade, Tee und Joghurt mit Honig – der ist wirklich lecker.
Außer mir schläft in der Jurte noch der Wirt selbst. Meinen Schlafsack soll ich nicht nehmen, stattdessen bezieht man mir ein Bett. Auf dem Boden liegen zwei, drei dickere Matten übereinander. Ich helfe der Wirtin ein Laken darüberzulegen, und dann kommt das dicke Bett darauf, denn es wird ganz schön kühl in den Nächten hier oben.
Ein Bach fließt direkt an der Jurte vorbei. Aus einem Rohr, das aus dem Berg ragt, fließt Wasser – offenbar Quellwasser – das in den Bach plätschert. Hier wasche ich mich mit dem ziemlich kühlen Wasser.
Als ich es mir später mit einem Becher Wein auf meiner Lagerstätte bereits gemütlich gemacht habe, holt mich der Sohn des Wirtes aus der Jurte.
Ich habe keine Ahnung, was er will, denn er spricht kein Wort Englisch, und an meinem Kirgisisch muss ich wirklich noch arbeiten.
Unter einem Überstand steht Essen auf Tischen; unerwartet gibt es ein zweites Mahl an diesem Abend, und wir essen alle zusammen. Auf jeweils zwei großen Tellern sind Kartoffeln, Fleisch, Salat. Nicht jeder bekommt einen eigenen Teller, aber eine eigene Gabel und einen eigenen Löffel, und so ausgerüstet essen wir gemeinsam von den großen Tellern.
In Semenovka komme ich wieder auf die Straße A363, die um den Issyk Kul führt.
Auf der Weiterfahrt nach Karakol fährt neben mir ein Auto, und der Fahrer spricht mich durch die offene Scheibe an. Das ist ja überhaupt nicht ungewöhnlich, aber dieser Typ schnauzt mich an, weil ich auf und nicht neben der Straße fahre. Er fährt so dicht an mich heran, dass er meine hintere Packtasche berührt und ich die Fahrbahn verlassen muss – das ist ein ziemlich aggressives Verhalten und mein erstes wirklich unangenehmes Erlebnis.
Nach mehreren Tagen finde ich nun endlich wieder eine Unterkunft mit WLAN. Mein Fahrrad steht hier im Skikeller des Hauses.
Das Loch im Schlauch des Vorderrads, das ich noch flicken muss, ist so groß, dass ich kaum Luft in den Schlauch bekomme. Ich verbrauche meinen neunten Flicken, der bedeckt gleich zwei Löcher.
Karakol liegt am östlichen Ende des Issyk Kul und hat gut 70.000 Einwohner. Die Stadt ist nur 150 km von der chinesischen Grenze entfernt. Sie wurde 1869 gegründet und entwickelte sich, als Forschungsreisende in die Gegend kamen, um die Gebirgsregion zwischen China und Kirgisistan zu erforschen. Nach 1877 wuchs Karakol schnell, vor allem, weil chinesische Muslime (Dunganen) auf der Flucht vor religiöser Verfolgung in die Stadt kamen.

Schnitzereien an Dunganen-Moschee
Die hölzerne Moschee wurde von chinesischen Facharbeitern und ortsansässigen Dunganen zwischen 1907 und 1910 im Stil der Tsin-Dynastie errichtet, und zwar vollständig ohne metallene Nägel.